Stellungnahme
an die Enquetekommission des Thüringer Landtags
im Anhörungsverfahren „Diskriminierungserfahrungen von Diskriminierung Betroffener, Multiplikatorlnnen, Expertlnnen“
(Download der Stellungnahme als PDF-Datei)
Der Verein „Vielfalt Leben – QueerWeg Verein für Thüringen e. V.“ verfolgt den Zweck, über die Diversität sexueller Orientierungen, Geschlechtsidentitäten und Beziehungsformen aufzuklären sowie zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sowie Diskriminierung zu sensibilisieren und diese zu bekämpfen. Im Rahmen dieser Zielsetzung realisiert der Verein verschiedene Projekte und wird von Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, regelmäßig mit Unterstützungs- und Hilfeanfragen kontaktiert.
Wie der Thüringen-Monitor 2017 des KomRex der Friedrich-Schiller-Universität Jena aufzeigte, bestehen trotz fortschreitender rechtlicher Gleichstellung noch in erheblichem Umfang Vorurteile gegenüber LSBTTIQ* in der Thüringer Bevölkerung, z.T. wird auch die Vorenthaltung gleicher Rechte für LSBTTIQ* / Regenbogenfamilien unterstützt. Die Studie „Queeres Deutschland 2015 – zwischen Wertschätzung und Vorbehalten“ (Change Centre Foundation) hatte Hinweise geliefert, dass die Akzeptanz von LSBTTIQ* in Thüringen geringer ausgeprägt sein könnte als in anderen Bundesländern, beispielsweise was eine etwas niedrigere Akzeptanz potenzieller queerer Nachbarn anbetrifft oder auch einen vergleichsweise erhöhten Anteil von Befragten, denen es „unangenehm“ wäre, für schwul oder lesbisch gehalten zu werden. Der Thüringen-Monitor mit seinem eigenen Messkonzept zu Vorurteilen gegenüber Minderheiten konstatiert für die Thüringer Bevölkerung im Vergleich zu deutschlandweiten Befragungen kein erhöhtes Ausmaß von Vorurteilen bzw. negativen Einstellungen gegenüber LSBTTIQ*. Nichtsdestotrotz sind solche Einstellungen in bedenklichem Maße zu beobachten. 2017 stimmten 45 Prozent der Befragten der Aussage zu, „Homosexuelle sollten aufhören, so einen Wirbel um ihre Sexualität zu machen.“ 21 Prozent meinten: „Es sollte gleichgeschlechtlichen Paaren untersagt bleiben, Kinder zu adoptieren.“ 23 Prozent waren der Auffassung: „Es ist nicht in Ordnung, wenn Menschen ihr Geschlecht ändern, z.B. durch Operationen und hormonelle Behandlungen.“ (vgl. Thüringen-Monitor 2017: S. 160 ff.). Hier ist erkennbar, dass Politik und demokratische Zivilgesellschaft im Freistaat konsequent und verstärkt die Akzeptanz von Vielfalt fördern müssen. Dies gilt insbesondere angesichts bestimmter politischer Versuche, Menschen gegeneinander auszuspielen und LSBTTIQ* u.a. wegen ihrer Emanzipations- und Gleichstellungserfolge als gesellschaftliche „Randgruppe“ (bzw. als „Perverse“ oder „Geisteskranke“) zu verunglimpfen, deren Interessen angeblich im Widerspruch zu denen der „Mehrheit“, dem „Kindeswohl“ bzw. der gesellschaftlichen Allgemeinheit stünden. Zu nennen wäre hier auch die Agitation gegen die rechtliche Gleichstellung von LSBTTIQ*, gegen die Anerkennung von Regenbogenfamilien, demagogische Angriffe gegen solche Wissenschaftler_innen und zivilgesellschaftliche Akteur_innen, die die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit und Sexualität beschreiben bzw. hinterfragen (Gender-Studies, queere/feministische Aktivist_innen), sowie gegen solche, die zur Förderung der Akzeptanz von Vielfalt Aufklärungsarbeit leisten. Die demoskopischen Befunde des Thüringen-Monitor legen nahe, dass sich mit der sogenannten „Anti-Gender“-Bewegung auch in Thüringen nur eine schwindende, traditionalistische bis reaktionäre Minderheit sammelt, allerdings ist die Fremdheitswahrnehmung und Abwertung von LSBTTIQ* kulturell verankert und wird beispielsweise in geschlechtsspezifischen Sozialisationsmustern (u.a. den heteronormativen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit) tradiert.
Der Verein hat im zweiten Halbjahr 2017 ein Befragungsprojekt realisiert, bei dem anlässlich des Christopher-Street-Day (CSD) in Erfurt und in Weimar mittels Fragebogen vor Ort, postalisch bzw. per Web-Survey insgesamt 516 Personen befragt wurden. 421 dieser Befragten identifizieren sich selbst als LSBTTIQ* (lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, inter*, queer* usw.) bzw. können bezüglich ihrer Geschlechtsidentität und/oder sexuellen Orientierung als nicht-heteronormativ lebende Menschen bezeichnet werden. Dem Publikum der CSD-Straßenfeste entsprechend war der Altersdurchschnitt der Befragten mit ca. 24 Jahren ausgesprochen gering. Unseres Erachtens nach handelt es sich um die erste standardisierte Befragung von Thüringer LSBTTIQ* diesen Umfangs, die aufgrund des Befragungsdesigns allerdings nur eingeschränkte Repräsentativität beanspruchen kann.
Die Befragungsergebnisse spiegeln eine relativ hohe subjektive Akzeptanz von (jungen) Thüringer LSBTTIQ*, aber auch deutliche Defizite wider. Diskriminierungserfahrungen hinsichtlich ihres Geschlechts, ihrer Geschlechtsidentität und/oder ihrer sexuellen Orientierung berichteten fast die Hälfte der Befragten, besonders aber Frauen*, Trans* sowie genderqueere Personen. Diskriminierungen finden demnach in vielfältigen Formen u.a. verstärkt in der Schule und in der Öffentlichkeit statt, sie wirken sich nachweislich negativ auf die allgemeine Lebenszufriedenheit der Befragten aus. Dabei berichteten auch die befragten Nicht-LSBTTIQ* (vor allem Frauen) in alarmierendem Umfang sexistische Diskriminierung. Aus den Befragungsergebnissen geht damit hervor, dass (junge) nicht-heteronormativ lebende Menschen im Freistaat mehr Akzeptanz und – auch institutionelle – Unterstützung benötigen. So ist unserem Erachten nach die Diskriminierungssensibilität in Bildungs- und Erziehungskontexten deutlich zu erhöhen und die konsequente Durchsetzung des AGG und des Artikels 2 (3) der Verfassung des Freistaates Thüringen (Diskriminierungsverbot wegen Geschlecht oder sexueller Orientierung) erforderlich. Auch gibt es Hinweise, dass (staatliche bzw. kommunale) Beratungs- und Hilfeangebote für LSBTTIQ* in Thüringen, insbesondere bezüglich spezifischer Diskriminierungsformen, besser entwickelt werden sollten; zumindest ihre Bekanntheit und Erreichbarkeit ist noch stark verbesserungsbedürftig. Die Befunde der Befragung können in einer Präsentation vorgestellt werden.
Dem Bildungsbereich widmet sich das „Aufklärungsprojekt miteinanders“ des Vereins: Qualifizierte ehrenamtliche Aufklärer_innen organisieren dabei vielfaltspädagogische Projekte an Bildungseinrichtungen in denen altersgerecht Faktenwissen bezüglich vielfältiger sexueller Orientierungen, Geschlechtsidentitäten und Beziehungsformen vermittelt wird sowie Möglichkeiten zur Begegnung und des Austauschs gegeben werden. Großen Raum nimmt in diesen Projekten jeweils eine offene Fragerunde ein. Hier zeigt sich kontinuierlich, dass Kinder und Jugendliche ein hohes Informationsbedürfnis zu den o.g. Themen haben, oft falsche oder unvollständige Bilder über nicht-heteronormativ lebende Menschen übernommen haben (z.B. aus den Medien) und bereits zahlreiche Diskriminierungserfahrungen machen mussten, bei denen entweder sie selbst oder Personen in ihrem Umfeld betroffen waren. Aus den anonymen Feedback-Fragebögen, die die Teilnehmenden am Ende der Projekte ausfüllen, geht hervor, dass u.a. die Möglichkeit, „endlich einmal alles fragen zu können“, und die „große Offenheit“ der Projektstunden geschätzt wird – offensichtlich sind die bisher an Thüringer Schulen etablierten pädagogischen Konzepte hier unzureichend. Mit seiner Arbeit schafft das Aufklärungsprojekt nicht nur Grundlagen für die Akzeptanz von LSBTTIQ*, sondern auch ein Bewusstsein für die Anerkennung und Wertschätzung von allgemeiner Diversität. So profitieren in einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft nicht nur LSBTTIQ*-Menschen von den Projekteinsätzen.
Die Vermittlung von Wissen über vielfältige sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten sowie der Fähigkeit, mit Diversität wertschätzend umzugehen, wird im 2017 veröffentlichten „Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre – Bildungsansprüche von Kindern und Jugendlichen“ hervorgehoben. Im Rahmen der Projekteinsätze des Aufklärungsprojektes miteianders berichten Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter_innen und anderes pädagogisches Personal wiederholt von fehlenden spezifischen Aus-, Fort- und Weiterbildungsangeboten, Unterrichtsmaterialien sowie entsprechenden Rahmenbedingungen. Mehrfach hat das Projekt daher selbst Weiterbildungen und Fachveranstaltungen organisiert, deren Teilnehmendenzahlen einen hohen Bedarf an derartigen Veranstaltungen dokumentieren. Das Aufklärungsprojekt miteinanders entwickelte in Zusammenarbeit mit der Landesvereinigung für Gesundheitsförderung Thüringen e. V. – AGETHUR – und pro familia Thüringen e.V. den vielfaltspädagogischen Material- und Methodenkoffer „Regenbogenkoffer“. Der regelmäßige Verleih des Regenbogenkoffers sowie die Teilnehmendenzahlen bei den bisherigen Fortbildungen und Workshops zum Einsatz des Regenbogenkoffers zeigen ebenfalls, dass die Nachfrage von vielfaltspädagogischen Angeboten mit LSBTTIQ*-Bezug in Thüringen groß ist.
Eine besondere Herausforderung für die Antidiskriminierungsarbeit in Thüringen besteht in der stark ländlich geprägten Struktur des Freistaates: Während in den Städten Erfurt, Jena und Weimar einige wenige Begegnungsorte und Vereine/Initiativen/Interessensvertretungen für LSBTTIQ* existieren, fehlen solche „in der Fläche“ fast vollständig – weit über drei Viertel der Thüringer Bevölkerung können wohnortnah keine vergleichbare Angebote nutzen. Auch ein Blick in die Beratungsstellendatenbank der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zeigt ein eindeutiges Bild: Gerade einmal zwei Beratungsstellen sind hier für Thüringen zu finden, in denen das Merkmal „Sexuelle Identität“ behandelt wird. Die eingangs erwähnte Befragung anlässlich des CSD in Erfurt und Weimar zeigt, dass bereits die Bekanntheit von Beratungsangeboten gering ist.
Zunehmend erreichen den Verein Anfragen bezüglich trans*geschlechtlicher Kinder und Jugendlicher. Die Anfragen kommen von Eltern und anderen Angehörigen sowie von pädagogischen, psychologischen oder psychotherapeutischen Fachkräften. Neben reinem Faktenwissen werden Ansprechpersonen aus Selbsthilfegruppen und Fachberatungen angefragt. Bezüglich solcher Fachberatungen muss – auch nach Rücksprache mit den hiesigen Selbsthilfegruppen – resümiert werden, dass in Thüringen kaum Anlaufstellen existieren, so dass gehäuft in andere Bundesländer verwiesen werden muss. Betroffene berichten, dass eine niederschwellige Antidiskriminierungs- und Beratungsarbeit in Thüringen kaum aufzufinden sei. Aufgrund einer noch deutlich geringeren Sichtbarkeit von intergeschlechtlichen Personen sind die Belange dieser Menschen in Thüringen sogar noch schwächer repräsentiert als die von Trans*Personen.
Mit dem gegenwärtig in Kabinettsabstimmung befindlichen Thüringer Landesprogramm für Akzeptanz und Vielfalt will sich Thüringen als 13. Bundesland einen Aktionsplan zur Bekämpfung von Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Orientierung und/oder der Geschlechtsidentität geben. In einem partizipativen Prozess wurde hierfür zunächst mit Community-Vertreter_innen, mit den betreffenden Ministerien, sowie unter Einbringung wissenschaftlicher Expertisen, Themen und Inhalte für das Landesprogramm erarbeitet. Deutlich wurde in diesem Prozess, dass:
- die bisher fast ausschließlich ehrenamtlich betriebene Antidiskriminierungs- und Bildungsarbeit für LSBTTIQ* in Thüringen an ihre Grenzen gestoßen ist, und
- bisher eine ministerienübergreifende Steuerung/Koordinierung für Antidiskriminierungsthemen fehlt, die Grundlage für die effektive politische Etablierung des Themas „Diskriminierungsschutz […] als Querschnittsaufgabe“ (vgl. die 2013 unterzeichnete Absichtserklärung des Freistaats Thüringen zum Beitritt in die „Offensive für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft“) wäre.
Empfehlungen des Vielfalt Leben – QueerWeg Verein für Thüringen e. V.:
- Fortentwicklung von Befragungen zu Lebenssituation und Diskriminierungserfahrungen von LSBTTIQ* in Thüringen zur Entwicklung gezielter Antidiskriminierungsarbeit – z.B. über die Festschreibung von Fragen im Thüringen-Monitor.
- Errichtung einer unabhängigen Landesantidiskriminierungsstelle mit niederschwelligen Beratungsangeboten sowie Ausstattung dieser mit Kompetenzen und zeitlichen als auch finanziellen Ressourcen zur psycho-sozialen, rechtlichen und politischen Unterstützung von Betroffenen (vgl. „Standards für eine qualifizierte Antidiskriminierungsberatung“, Antidiskriminierungsverband Deutschland).
- Erhöhung der Sensibilität für LSBTTIQ*-Themen und LSBTTIQ*-Diskriminierung in Bildungseinrichtungen bzw. in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften u.a. pädagogischem Personal, u.a. Einrichtung eines unabhängigen Beschwerdemanagements an Thüringer Schulen.
- Verabschiedung des Thüringer Landesprogramms für Akzeptanz und Vielfalt unter Einbeziehung der aus der Community und wissenschaftlichen Expertisen eingebrachten Forderungen.
- Kontinuierliche und langfristige Ausstattung des Thüringer Landesprogramms für Akzeptanz und Vielfalt mit entsprechenden Kompetenzen sowie angemessenen zeitlichen und finanziellen Ressourcen.
- Unterstützung der weiteren Professionalisierung ehrenamtlicher Strukturen der LSBTTIQ*-Community durch die Förderung einer hauptamtlichen Struktur mit ausreichenden zeitlichen und finanziellen Ressourcen.
- Sensibilisierung und Schulung bestehender Beratungsstrukturen zu LSBTTIQ*-Themen.
- Sichtbarmachung von Beratungsstrukturen durch Förderung geeigneter Öffentlichkeitsmaßnahmen.
- Vernetzung von Beratungsangeboten zum Austausch (Best practice).
- Einrichtung einer unabhängigen aufsuchenden Beratung mit besonderem Schwerpunkt für den ländlichen Raum.